In den letzten Wochen sind viele US-Wachstumsunternehmen stark unter Druck geraten. In den Finanzmedien liest man dazu oft, steigende Zinsen seien der Grund dafür und man solle jetzt besser auf sog. „Value-Werte“ setzen. Defizitäre Wachstumsunternehmen dagegen, die noch auf viel Fremdkapital angewiesen seien, hätten hier das Nachsehen. Aber stimmt diese Sichtweise mit den profitablen Value-Werten auf der einen Seite und den defizitären Wachstumswerten auf der anderen Seite überhaupt?
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Value vs. Growth
Wir Menschen neigen oft dazu, uns die Dinge so einfach wie möglich zu machen. Wir brauchen Klischees und Daumenregeln, um mit der enorm großen Komplexität und Differenziertheit der Welt irgendwie umgehen zu können. An der Börse führt das nach meiner Wahrnehmung dazu, dass die meisten Marktteilnehmer ständig auf der Suche sind nach irgendwelchen Abkürzungen, um mit minimalem Aufwand möglichst großen Nutzen zu haben. Keine Abkürzung zu nehmen würde bedeuten, sich mit den Unternehmen im Einzelnen zu beschäftigen und zu versuchen, möglichst viele Informationen über sie zusammenzutragen und auf dieser Basis eine Entscheidung zu treffen. Dafür haben die meisten aber keine Zeit und versuchen daher, mit groben Kategorien zum Erfolg zu kommen.
2 dieser Kategorien, in die Unternehmen oft eingeteilt werden, sind „Value“ und „Growth“. Dabei sollte eigentlich jedes Unternehmen, in das man investiert, auf irgendeine Art profitabel sein und auch wachsen. Mit „Value“ könnte man nun eine Extremform von Unternehmen bezeichnen, die besonders profitabel und günstig zu haben sind, aber nicht wachsen. Mit „Growth“ das andere Extrem: nicht profitabel, teuer, stark wachsend.
Eine solche Sicht der Dinge bildet aus meiner Sicht aber die Realität nicht ab. Es gibt kaum Unternehmen, die diese Extreme in Reinform erfüllen, daher haben wir es fast immer mit Mischformen zu tun. Warum aber dann in den Extremen denken und handeln?
Dazu kommt, dass die klassische Definition von „Value“-Unternehmen m.E. problematisch ist. Denn darunter wird gemeinhin nicht verstanden, dass vom Umsatz besonders viel Gewinn übrig bleibt, also eine hohe Gewinnmarge vorhanden ist. Stattdessen wird diese Kategorie meistens mit einem geringen Kurs-Gewinn-Verhältnis gleichgesetzt, d.h. als Investor zahlt man pro Euro Gewinn relativ wenig Marktwert. Das ist aber typischerweise bei Unternehmen der Fall, die Qualitätsprobleme haben: geringe Margen, schwankende Gewinne, hohe Verschuldung, riskantes Geschäftsmodell. Und das sollen dann „Wert“-Unternehmen sein? Gemäß der Definition mit dem niedrigen KGV sind es nichts anderes als Billig-Unternehmen. Und meistens zurecht…
Auch bei den Wachstumsunternehmen sollte man genauer hinschauen: Was wächst denn da, die Umsätze und Gewinne oder mehr die Verluste? Und vor allem: gibt es einen positiven Cash Flow, oder fließt jährlich Geld ab, das man sich dann über (Eigen-)Kapitalerhöhungen oder (Fremd-)Kapitalaufnahme wieder neu besorgen muss?
Man sollte also in jedem Fall genauer hinschauen, denn die Kategorien Value und Growth sind so ungenau definiert, das sie für viele wesentliche Unternehmenseigenschaften gar nicht aussagekräftig sind. Und damit auch nicht für die Frage, welches Unternehmen mit welcher Marktsituation besser zurechtkommt und welches schlechter.
Was bewirken steigende Zinsen?
Bevor man die Frage beantworten kann, für welche Unternehmen steigende Zinsen ein Problem werden könnten, muss man wissen, was steigende Zinsen überhaupt bewirken. Ich habe 2 Hauptauswirkungen ausgemacht:
- Höhere Zinsen erhöhen die Kreditkosten. Dies ist eine operative Auswirkung, die also das Unternehmen selbst betrifft. Steigen die Zinsen um 1%, müssen für jeden geliehenen Dollar jährlich 1 Cent Zinsen mehr an den Kreditgeber bezahlt werden. Diese Auswirkung betrifft daher nur Unternehmen, die aktuell Kredite aufgenommen haben oder es in der Zukunft tun werden. Wer dagegen netto auf Guthaben sitzt, kann diese nun zu höheren Zinsen anlegen und daran verdienen. Letzteres ist bei den meisten Wachstumsunternehmen, in die ich investiert bin, der Fall.
- Höhere Zinsen erhöhen den Abzinsungsfaktor von zukünftigen Geldflüssen. Das betrifft die Unternehmen nicht operativ, sondern spielt bei der Unternehmensbewertung eine Rolle: Der Unternehmensgewinn in 10 Jahren ist heute weniger wert als der Betrag in 10 Jahren suggeriert.
Beispiel: Heute, Freitag 10.12.2021 sind 100$ genau 100$ wert. Der Zins für die 10jährige US-Staatsanleihe liegt bei 1,48%. Das bedeutet, dass 100$, die man heute in diese Anleihe investiert, durch den Zinseszinseffekt am 10.12.2031 einen Wert von 100$ x (1 + 0,0148)^10 = 100$ x 1,1582 = 115,82$ erreicht haben werden. Oder andersrum gesagt: Die 115,82$ aus dem Jahr 2031 sind heute nur 100$ wert.
Wenn nun der Zins der 10jährigen US-Staatsanleihe um 1% steigen sollte, wären die 115,82$ aus dem Jahr 2031 heute nur noch gut 90$ wert. Genau diese 10$ weniger sind es, die der Markt einpreisen will, wenn er sagt, dass „Zinserhöhungen schlecht für Wachstumsunternehmen“ seien.
Man muss hier aber m.E. die Kirche im Dorf lassen, denn dieser Effekt ist ja genauso groß wie bei einem um 1% geringeren Gewinnwachstum pro Jahr. Rhetorische Frage: Ist das viel bei einem Unternehmen, das z.B. mit 30% pro Jahr wächst? Eben, darum kann dieser Effekt den Crash bei den US-Wachstumswerten nur zu einem kleinen Teil erklären.
Was heißt das nun für Wachstumsunternehmen?
Gut durchfinanzierte Wachstumsunternehmen, die kaum verschuldet sind und einen positiven Free Cash Flow aufweisen, haben m.E. überhaupt kein Problem mit den angekündigten Zinserhöhungen. Sowohl die operativen als auch die Bewertungsauswirkungen sind sehr überschaubar. Dass im letzten Monat trotzdem kaum ein US-Wachstumsunternehmen vom Crash verschont wurde, liegt wahrscheinlich vor allem daran, dass die angekündigte straffere Geldpolitik den Marktteilnehmern in Erinnerung gerufen hat, dass die Bäume auch bei soliden Wachstumsunternehmen nicht in den Himmel wachsen. Nicht jede beliebig hohe Bewertung ist gerechtfertigt, und so wurde im aktuellen Crash sicherlich nicht nur der oben beschriebene Abzinsungsfaktor eingepreist, sondern auch so manche ausgeuferte Bewertung gleich mit korrigiert. Der Momentum-Effekt (Trends setzen sich fort…) tat dann noch sein Übriges.
Aufgrund der recht pauschalen Abstrafung praktisch aller Unternehmen der sehr groben Kategorie „Wachstum“ gehe ich davon aus, dass in den nächsten Monaten zunächst eine Differenzierung stattfinden wird. Die o.g. „gut durchfinanzierten Wachstumsunternehmen“ werden sich ein gutes Stück erholen und bei günstiger operativer Entwicklung (Wachstumsbeschleunigung, Profitabilitätssteigerung) auch zu neuen Hochs aufschwingen. Andere werden als „zurecht abgestraft“ auf dem jetzigen Niveau verharren oder bei negativen Nachrichten auch weiter fallen. Wichtig wird daher sein, die richtigen Unternehmen im Depot zu haben. Auf die Frage, was „richtig“ bedeutet, habe ich eine einfache Antwort: diejenigen, die in Relation zu ihrer Unternehmensentwicklung attraktiv bewertet sind. Ich werde mich bei der Beantwortung dieser Frage natürlich weiterhin am LionFolio Enterprise Score orientieren.
Einen weiteren Effekt kann es übrigens geben: Dass die vollmundig angekündigten Straffungen der Geldpolitik in der Form und Geschwindigkeit so bzw. so schnell nicht kommen werden. Denn die FED hat sich in den letzten Wochen ja geradezu damit überschlagen, eine Verschärfung nach der anderen anzukündigen. Ob das tatsächliche Wirtschaftswachstum und die Inflation in den nächsten Monaten eine solche drastische Verschärfung überhaupt rechtfertigen werden, muss die Zukunft zeigen. Es wäre nicht das erste Mal innerhalb von 1 Jahr, dass die FED mit ihrer Prognose eher falsch liegt. Das würde den aktuellen geldpolitischen Gegenwind natürlich wieder in Rückenwind verwandeln…